Case Study: Jacob Holdt

Text und Recherche: Gwendolyn Fässler, Assistenzkuratorin/wissenschaftliche Volontärin und Doris Gassert, Research Curator

Der dänische Fotograf Jacob Holdt (*1947) reiste von 1970 bis 1975 per Anhalter durch die USA. In dieser Zeit boten ihm über 350 Menschen ein temporäres Zuhause und liessen ihn als aufmerksamen Gast, als Freund oder Liebhaber in ihre Lebenswelt eintauchen. Von den Berichten ihres Sohnes schockiert und gleichzeitig fasziniert, schickten ihm seine Eltern eine Canon Dial 35 Halbformatkamera, mit der er fortan seine Erlebnisse dokumentierte. Es entstanden über 15’000 schnappschussartige Aufnahmen von Menschen in ihrem Alltag und ihrer Umgebung. Sie umfassen sämtliche Register der menschlichen Beziehungen – von Gewalt, Armut und Verbrechen, bis zu Zuneigung und Liebe.

1977 veröffentlichte Holdt seine Bilder und umfangreichen Schilderungen im Buch American Pictures, um auf die Armut und Ausbeutung der Schwarzen Bevölkerung aufmerksam zu machen. Nachdem das Buch innert kurzer Zeit zum internationalen Bestseller avanciert war, kehrte Holdt in die USA zurück, um in Diavorträgen auf die tiefe gesellschaftliche Kluft und die verheerenden sozialen Missstände hinzuweisen. Seit Anfang der 2000er-Jahre zeigt Holdt seine Fotografien auch im Kunstkontext. Holdt, der seine sozialkritische Fotografie jahrelang im Bildungskontext und stets von seinen Worten begleitet zeigte, weigerte sich ursprünglich, sie als Kunst ohne Begleittext zu präsentieren. Zu ambivalent und instrumentalisierbar schien ihm die Reduktion auf die ästhetische Wirkungskraft seiner Bilder. Trotzdem werden seine Bilder heute in Museen und Ausstellungen losgelöst von ihrem ursprünglichen narrativen Kontext gezeigt. Auch das Fotomuseum Winterthur besitzt in seiner Sammlung eine vierteilige installative Diaprojektion, die 160 Fotografien aus Holdts umfangreichem Archiv aus American Pictures ohne ihre ursprüngliche Kontextualisierung umfasst.

Fragestellungen

Bei den American Pictures von Jacob Holdt drängt sich eine Neubefragung der Fotografien und deren Funktions- und Wirkungsweise in mehrfacher Hinsicht auf. Sowohl in ihrer historischen Verortung wie aus zeitgenössischer Perspektive sind die Bilder Holdts durchdrungen von Ambivalenzen, die sich gerade über ihr Fortbestehen in unkontrollierten Kontexten besonders prägnant offenbaren und einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung bedürfen. Unter Bezugnahme auf die postkoloniale Perspektive, die Dynamiken von Macht, Identität und Repräsentation in den Blick nimmt, der Critical Race Theory mit ihrem Fokus auf race als Analysekategorie, sowie den Critical Whiteness Studies, welche die soziale Konstruktion und die Mechanismen der weissen Vorherrschaft analysieren, sollen Holdts Fotografien kritisch untersucht werden.

Es soll in dieser Case Study nicht darum gehen, die Arbeitsweise von Jacob Holdt oder American Pictures zu diskreditieren. In seinen unterschiedlichen Präsentationsformen steht American Pictures grundlegend für die bald 50 Jahre andauernden Bemühungen Holdts, auf die Unterdrückung der Schwarzen Bevölkerung Amerikas aufmerksam zu machen und dadurch Verständnis, Verantwortung und Veränderungen in dem von ihm adressierten, vornehmlich weissen Publikum hervorzurufen. Diesen Kampf führt Holdt bis heute erfolgreich weiter. Im persönlichen Gespräch hat Holdt diese und weitere seiner Lebenserfahrungen und Methoden mit dem kuratorischen Team des Fotomuseum Winterthur geteilt. Für seine Bereitschaft, Offenheit und Passion danken wir ihm sehr.

Vor diesem Hintergrund beleuchtet die Case Study die werkimmanenten Ambivalenzen von Holdts Fotografien auf den Wirkungsebenen ‹Bild›, ‹Narrativ› und ‹Kunst›. Die Fragen, die sich im Rahmen dieser Auseinandersetzung aufdrängen, sollen als konstruktives Werkzeug verstanden werden, das die Recherchen und den Austausch mit Holdt sowie weiteren Expert_innen begleitet. Folgende Fragen leiten die Case Study:

Ambivalenzen auf der Ebene der Bilder:

  • Reproduktion kolonialer Darstellungsformen: Reduktion auf Stereotypen; De-Individualisierung und exploitation > wieviel agency haben die Subjekte?; Individuen werden zu Stellvertreter_innen einer Gruppe; Zeitlosigkeit/Unmöglichkeit der Weiterentwicklung; Gefahr des «Othering» in der Darstellung von rassistisch und klassistisch diskriminierten Menschen?
  • Nähe zu den abgebildeten Subjekten birgt auch eine voyeuristische Komponente: Dokumentation oder Ausstellen von sozial benachteiligten Menschen?
  • Über die fotografische Anordnung (und im Bild) eingeschriebene Machtdynamiken: Blick des weissen männlichen Fotografen?
  • Reproduktion von Gewalt, Bilder von getöteten Menschen werden für ein shock effect instrumentalisiert: Entwürdigung der abgebildeten Menschen?

Ambivalenzen auf der Ebene des Narrativs:

  • «I became a messenger between Black and white in a totally divided society»: Wie schreiben sich Botschafter_innen (die niemals neutral sind) in die Botschaft ein, vor allem in einer Dynamik von race relations (und verstärkt durch die fotografische Anordnung)?
  • Selbst-Identifikation als «Vagabund» und Integration in der Schwarzen Community?
  • Wer hat das Recht (wie) über wen zu sprechen, das Narrativ zu gestalten?
  • Allwissende Perspektive und bewusst eingesetzter moralisierender Ton («preacher’s son», white saviour complex)?
  • Konstruiertes Narrativ mit klarer didaktischer Intention, einem klar benannten Zielpublikum («white audience») und bewusst gewählten Inszenierungsstrategien (shock effect, juxtaposition); setzt auf starke Generalisierungen; persönliche Geschichten und Personen werden im Sinne eines allumfassenden, singulären Narrativs (Black oppression) bewusst instrumentalisiert?
  • Bilder dienen bewusst der emotionalen Aktivierung/Mobilisierung der Betrachter_innen («white guilt»)?
  • Bestimmung/Dominierung des Narrativs für die weisse und die Schwarze Bevölkerung? Wo ist der Moment des Empowerments (Einbezug der Schwarzen Community in Workshops)?
  • Zusammenhang zwischen (Kon-)Text und Bildern: Bilder sind zweitrangig, dienen der Illustration des gesprochenen und geschriebenen Wortes / der narrativen Konstruktion (Black oppression, strukturelles Phänomen)?

Problematik des Transfers einer sozialdokumentarischen Auseinandersetzung / Fotografie zur Kunst:

  • Loslösung der Bilder aus ihrem ursprünglichen didaktischen Kontext und der ursprünglichen Intention des Narrativ Holdts: Die den Bildern inhärenten Ambivalenzen können sich negativ entfalten; Instrumentalisierungsgefahr?
  • Überführung in ein für solche Fotografien fragwürdiges ästhetisches Bewertungsregister der Fotografie als Kunst (Herausbildung von ikonischen Bildern)?
  • Rolle und (Selbst-)Bild von Holdt als Fotograf (Konstruktion des Selbstbildes: «I’m not a photographer»; problematische Platzierung in der Fotogeschichte (Jacob Riis und die stark rassistische Komponente von dessen frühen Slideshows); Holdt als Künstler «stripped of words» / Mythos Holdt (> Arthur Jafa)?

Die Case Study untersucht die Bilder Holdts in ihren verschiedenen Präsentationskontexten:

American Pictures im musealen Kontext

Um die Bilder Holdts im musealen Kontext wirksam zu zeigen, ist eine Präsentationsform erforderlich, in der sowohl die bildimmanenten als auch inhaltlichen Konflikte anerkannt, dargelegt und reflektiert werden können. Deshalb wurde im Rahmen der Case Study eine geeignete Präsentationsform für das Sammlungswerk, das ursprünglich vier Diaprojektionen und 160 Fotografien umfasste, im Ausstellungsraum erprobt.

In Zusammenarbeit mit Jacob Holdt hat das kuratorische Team des Fotomuseum Winterthur hierfür erstens die Auswahl der Bilder adaptiert: Kategorisch wurden (I) Bilder, die ethische Grenzen sprengen, (II) Bilder, die eine intensivere Kontextualisierung verlangen und (III) Bilder, die das Narrativ verschleiern, aussortiert. Zweitens wurde die Anzahl der Diaprojektionen von vier auf zwei begrenzt und drittens wurde die Projektion um eine Audiospur ergänzt, in der Jacob Holdt im Gespräch mit dem kuratorischen Team über seine Bilder und deren Funktions- und Wirkungsweise reflektiert.

An dieser Stelle muss betont werden, dass auch diese Neueditierung des Sammlungswerks wiederum eine dezidiert weisse Perspektive markiert, worin sich unter anderem strukturelle Probleme abzeichnen, die den zeitgenössischen Museumsdiskurs beschäftigen. Um diesem Ungleichgewicht entgegenzuwirken, werden die Forschungsfragen während der Ausstellungsdauer von Der Sammlung zugeneigt im Dialog mit externen Expert_innen und weiteren Stimmen (u.a. im Rahmen des vermittlerischen Formats Team Extra) diskutiert. Neben der hier kontinuierlich online gestellten wissenschaftlichen Recherche webt die Case Study somit die Bilder Holdts in ein Netz aus unterschiedlichen Perspektiven und Erzählebenen.

Für Anregungen und weitere Inputs kontaktieren Sie bitte: gassert@fotomuseum.ch.

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